Die Spannung zwischen körperlichem Wohlergehen und Freiheit im Rechtsstaat
Seit Beginn der sogenannten „Corona-Pandemie“ erleben Menschen rund um den Globus Einschränkungen ihrer Rechte, um dem Virus SARS-CoV-2 entgegenzuwirken und das Risiko der Ansteckung zu verhindern. Die Frage, die sich gegenwärtig in der deutschen Öffentlichkeit stellt, könnte kaum kontroverser geartet sein: Darf der Staat Grundrechte der Bürger außer Kraft setzen, um die Verbreitung von Viren zu verhindern? Offenbar stoßen sich hier zwei von Menschen hochgeschätzte Werte: Freiheit und Gesundheit. Was abstrakt klingt, durfte man in personam bereits seit Monaten erleben. Auch wenn die Kontaktbeschränkungen schrittweise gelockert wurden, große Versammlungen sind immer noch streng reglementiert und ab einer gewissen Anzahl Personen verboten, regionale Lockdowns mit Ausgangssperren und Quarantänemaßnahmen für Rückkehrer aus dem Urlaub Realität. Einerseits ist es verständlich, dass den Menschen die Gesundheit am Herzen liegt, da mit Krankheit Leid verursacht wird, auch seelisch, wenn beispielsweise ein Verwandter daran stirbt. Daher, und weil der Staat auch für die körperliche Sicherheit seiner Schutzbefohlenen zu sorgen hat, besteht ein natürliches Interesse darin, möglichst keine Krankheitserreger zu tolerieren. Diesem Ansatz entspricht das Verständnis des Menschen als einem gemeinschaftlichen Wesen, das zum Wohle der Gesellschaft auf bestimmte Handlungen verzichtet (wie z.B. bei schlechtem Befinden auf öffentliche Veranstaltungen zu gehen), oder das Konventionen bzw. Schutzmaßnahmen einhält (regelmäßiges Händewaschen, Arztbesuche etc.). Andererseits ist der Mensch als individualistisch veranlagtes Wesen mit einer Sensibilität in Bezug auf seine Möglichkeiten ausgestattet, er verwirklicht sich in bestimmten Entwürfen, die er selbst sich setzt. Gerade das Konzept der Prävention von Krankheiten – wie eingangs beschildert – kann aber nun in Konflikt treten mit dem Freiheitsempfinden einiger Bürger, die sich fragen, ob die Maßnahmen des Staates nicht ihrer Handlungsfreiheit entgegenstehen. Sie befürchten, ein Zuviel des staatlichen Eingriffs in die qua Grundgesetz verbürgten Rechte könne auch zu einer Art „Gesundheitsdiktatur“ führen. Zwischen beiden Ansprüchen der Bürger zu vermitteln ist ein schmaler Grat, dem der Staat und die Institutionen des Rechts sich stets aufs Neue widmen sollen und am Besten im Dialog erschließen.
„Gesundheitsdiktatur“ oder verantwortungsbewusste Prävention?
Für die „Biomacht“ Staat besteht immer die Gefahr, seine Mittel unverhältnismäßig einzusetzen, wenn er ein Prinzip absolut setzt und den Bürgern keinen privaten Freiraum mehr lässt. Wie würde also eine Regierungsform aussehen, die in der Zukunft alles der Gesundheit unterordnet? Als eindrucksvolles Zeugnis einer so vorgestellten Zukunft, in der der Mensch als rein biologisch motiviertes Wesen vom Staat gesehen wird und sein gesamter Alltag sich auf die Verhinderung von Krankheiten ausrichtet, kann Juli Zehs „Corpus Delicti“ gesehen werden. Die Freiheit, die dort jeder Mensch genießt, ist eine bloße „Freiheit von“, keine „Freiheit zu“, sofern die Möglichkeit einer Kontaminierung ins Spiel kommt. Das Perfide an dieser Utopie von Zeh ist, dass die meisten Menschen dort gar kein Verlangen nach Freiheit haben, oder dieses Verlangen verdrängen, weil ihnen die Gesundheit das höchste Gut ist. Bis auf Mia Holl, die Protagonistin des Romans, deren Bruder vom Staat verurteilt wurde und der sich anschließend selbst erhängte. In ihrer Trauer durch das
staatliche System, der „Methode“, gestört, vernachlässigt sie ihre Gesundheitschecks. Was folgt, ist eine fortwährende Verstrickung in die Widersprüche der „Methode“… Beeindruckend an dieser Utopie: sie wurde 2009 geschrieben, lange vor der „Corona-Pandemie“, doch man erkennt Parallelen zu unserem jetzigen Zustand. Darunter die regelrechte Verfolgung von für Krankheiten Verantwortliche (wie Trumps Anfeindungen gegen „das China-Virus“ oder die zeitweilige Aggression gegen Menschen aus Gütersloh etc.) und Maßnahmen wie die Implantation eines Chips in Zehs Roman, das durchaus als Vorstufe zu der Implementation der Corona-Warn-App hier in Deutschland betrachtet werden kann. „Corpus Delicti“ dient als warnende Stimme, die auf vorhandene Tendenzen in unserer Gesellschaft aufmerksam macht.
Rechte und Pflichten
Allgemein sieht man, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung einer jeden Pandemie, wie in unseren Tagen, Gesundheit nie als absoluten Wert setzen sollten, sondern vor allem in Verhältnismäßigkeit begründet sein sollten, die dem Menschen im privaten Bereich Spielraum lassen, in der Gemeinschaft aber zur Achtsamkeit zwingen. Dies hört sich schwer an, verdeutlicht aber auch, dass einige Bürger ganz unterschiedliche Wahrnehmungen ihrer Rechte haben. Wenn beispielsweise von einer „Corona-Party“ die Rede ist, die ohne Mundschutz oder Hygienekonzept durchgeführt und aufgelöst wurde, so versteht man unter Umständen diese Party als Ausdruck persönlicher Freiheit, ohne zu bedenken, dass man auch Verantwortung für Umstehende in dem Moment trägt, da man mit ihnen in Kontakt kommt. Aber die gegenteilige Reaktion ist hierzulande überwiegend der Fall, dass nämlich konsequent alle von den medizinischen Experten empfohlenen Regeln eingehalten wurden. Solidarität und Standhaftigkeit sind bei vielen vorhanden, Jens Spahn sprach in einem Interview sogar von „Corona-Patriotismus“. Fest steht aber, dass die Rechtfertigung der Maßnahmen im Namen der Gesundheit stets kritisch beurteilt werden müssen und auf ihre Konsequenzen reflektiert werden muss. Das Oberverwaltungsgericht kippte im Juli den fortgesetzten Lockdown für die ganze Region Gütersloh, was für eine kontinuierliche Neubewertung der Situation spricht, und auf das Funktionieren einer kritischen Auseinandersetzung mit den verhängten Maßnahmen spricht. Doch worauf gründet sich überhaupt die Rechtsstaatlichkeit der Einschränkungen? Die Ermächtigungsgrundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) rechtfertigt Grundrechtseinschränkungen zum Schutze der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vor Seuche. Davon wurde auch Gebrauch gemacht, in den letzten Monaten wurden die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Berufsfreiheit, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und weitere gesetzliche Bestimmungen beschränkt. Grundsätzlich ist auch eine Maskenpflicht vom IfSG abgedeckt. Tatsächlich ist eine Bewertung der Legalität aber nie pauschal vorzunehmen, sondern bleibt auch unter Richtern in ihren Urteilen stets Sache der Auslegung im Einzelfall.
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