Samstagmorgen, 5 Uhr. 14 müde Augenpaare starren auf die Abflugtafel am Köln/Bonner Flughafen. Noch zwei Stunden, bis unser Flug nach Mailand geht. Kurze Zeit zuvor hatte der Wecker uns alle aus dem Schlaf geholt. Beim Aufwachen schlug uns eine ganz andere Landschaft entgegen, als am Abend zuvor: Über die Nacht hatte der Schnee alles weiß gezaubert. Das ist auch in Italien nicht anders. Von Mailand geht es per Fernbus weiter nach Turin. Wegen der nicht geräumten Straßen dauert die Fahrt in dem stickigen Bus eine halbe Ewigkeit, doch dann sind wir endlich da, in Turin, wo wir schon von unseren Gastschülern erwartet werden. Hier findet dieses Jahr das EYE-Project statt.
Das EYE-Project ist ein Literaturprojekt zwischen den vier Jesuitenschulen Sint-Barbaracollege in Gent (Belgien), Fényi Gyula Kollégium in Miskolc (Ungarn), Istituto Sociale in Turin (Italien) und unserer Schule, das jährlich an einem anderen Standort stattfindet. Im Vorfeld sollen alle Teilnehmer ein Buch lesen, in diesem Jahr „Extrem laut und unglaublich nah“ von Jonathan Safran Foer. Der Roman handelt von Oscar, der beim Anschlag auf die Twin Towers seinen Vater verliert. In dessen Zimmer findet er einen Briefumschlag mit der Aufschrift „Black“, in dem ein Schlüssel steckt. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach dem Schloss zu dem Schlüssel und besucht alle Menschen in New York, die den Nachnamen Black haben. Dabei begegnet er vielen unterschiedlichen Menschen und hört sich deren Geschichten an. Er lernt seine Ängste zu überwinden und sammelt wichtige Erfahrungen auf seiner Reise durch New York.
Doch auch wir begegnen auf unserer Reise nach Turin vielen verschiedenen Menschen und sammeln persönliche Erfahrungen in dieser Stadt. Bei unserer Ankunft werden wir alle von unseren Gastschülern entgegengenommen, denn das Wochenende verbringen wir zunächst in unseren Gastfamilien. Ich freue mich besonders, die Lebensweise der Italiener kennenzulernen, von der auch wir Deutschen schon ein sehr ausgeprägtes Bild haben. Doch entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit oder sind es eher Klischees?
Kontaktfreudigkeit
Wir Deutschen halten die Italiener für äußerst kommunikativ – und das auch berechtigt. Wir treffen uns jeden Abend mit dem Freundeskreis meiner Gastschülerin. Die Italiener bestreiten hier meist den Hauptteil der Konversationen, doch leider meist auf Italienisch, so dass es uns Nicht-Italienern schwerfällt, uns einzubringen. Mein Eindruck ist also, dass sich das Klischee von den gesprächigen Italienern erfüllt, diese jedoch zumeist unter sich bleiben und deshalb außerhalb ihrer Clique nicht seht kontaktfreudig zu sein scheinen.
Religiosität
Besonders überrascht hat mich die Religiosität der Italiener. Für meine Austauschschülerin gehört es sich, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Als wir dort ankommen, bin ich äußerst erstaunt: Die Kirche ist so voll, dass wir nur noch einen Platz in einem Seitenschiff bekommen. Doch es kommen noch immer mehr Leute, sodass es bald gar keine Sitzplätze mehr gibt und einige stehen bleiben müssen. Eine Studie zeigt, dass 52% der Italiener sagen, dass die Religion für sie sehr wichtig sei. Im Vergleich dazu behaupten dies 38% der Deutschen. Aus einer anderen Studie geht hervor, dass 30% der italienischen Bevölkerung regelmäßig Gottesdienste besucht, in Deutschland sind es weniger als 10%. Jedoch fällt mir auf, dass es hier im Gottesdienst viel unruhiger ist als bei uns, die Frau gegenüber von mir fängt zum Beispiel plötzlich an, mit ihrer Tochter zu quatschen. Deshalb ist einerseits mein Eindruck, dass es sehr wichtig für die Italiener ist, in die Kirche zu gehen, andererseits auch, dass einige sich überhaupt nicht dafür zu interessieren scheinen, was das Wesentliche ist.
Familienleben
Als wir aus der Kirche zurückkommen ist schon die ganze Familie, einschließlich der Oma – „la nonna“ – versammelt. Das Essen ist ein typisches Drei-Gänge-Menü: Nudeln zur Vorspeise, Fleisch zur Hauptspeise und Eis zur Nachspeise. Währenddessen wird so etwas wie ein Familienrat abgehalten: Die Eltern wollen sich ein Haus in den nahe gelegenen Bergen kaufen und nun wird diskutiert welche Kriterien dieses erfüllen soll. Es bleib jedoch in der Woche, die ich hier verbringe das einzige Mal, dass die ganze Familie zusammenkommt. Das ist für mich sehr ungewohnt, da wir zu Hause immer zusammen Abendessen. Meiner Auffassung nach ist die Familie in Italien also auch nicht viel wichtiger als in Deutschland.
Das EYE-Programm startet
Nach dem ersten, sehr eindrücklichen Wochenende geht es endlich mit dem Programm los. Am Anfang stehen Präsentationen der einzelnen Schulen, die im Voraus vorbereitet wurden. Sie vermitteln einen kleinen Eindruck von dem jeweiligen Land, der Stadt und der Schule selber. Anschließend spielen wir ein kleines Quiz zum Buch. Dabei wird schon darauf geachtet, dass die Gruppen, die gegeneinander antreten, von den Nationen her durchmischt sind. Dadurch lernen wir die anderen schon ein wenig kennen.
In der Mittagspause essen wir immer in der Mensa und auch hier gibt es ein Drei-Gänge-Menü. Nach dem Essen geht es raus: Im Stadtzentrum von Turin machen wir eine Stadtrally. Das einzige, was es ein wenig trübt, ist das miserable Wetter, denn leider regnet es. Auf unserem Streifzug quer durch die Stadt bekommen wir einen guten Eindruck von Turin. Der Regen macht letztendlich auch gar nicht so viel aus, denn unter den fast 20 Kilometer umfassenden, breiten Arkaden, die man fast in der gesamten Innenstadt vorfindet, hat dieser keine Chance, einen zu erreichen. Eine Italienerin bemüht sich besonders um uns und spendiert unserer Gruppe eine „Gianduia“, eine Turiner Spezialität, die aus dunklem Nougat besteht. Doch die in Deutschland eher unbekannte Süßigkeit ist ehemals aus der Not heraus entstanden: Da einst die Zölle auf Kakao stiegen, streckte man die Schokolade mit gerösteten Haselnüssen. Mit dieser kleinen Wegzehrung schaffen wir es auch gut wieder ans Ziel.
Am zweiten Tag beschäftigen wir uns mit Workshops, die thematisch etwas näher an der Romanvorlage liegen. Noch in Bonn haben wir uns für den Workshop eingetragen, der uns am meisten interessiert. Das Schöne ist, dass zwar schon die Themen der Workshops festgelegt sind, wir aber in der Ausführung relativ frei sind. Die einzige Voraussetzung ist, dass wir am Ende eine etwa 15-minütige Präsentation halten können, in der wir über unseren Workshop berichten. Es ist wirklich interessant, mit Schülern aus anderen Nationen zusammenzuarbeiten, denn dabei kommt man immer wieder ins Gespräch miteinander und lernt sich anders als mit der eigenen Muttersprache zu verständigen. Mein Workshop steht unter dem Thema „Oscars New York“ und wir versuchen die Orte, die in dem Buch vorkommen, einmal aus Oscars Sicht und aus der Sicht eines Touristen darzustellen.
Der Mittwoch bietet uns wieder kulturelles Programm. Vor allem die Aktivitäten am Vormittag verbindet uns noch mal besonders: Wir gehen in die riesige Sportanlage der Schule, zu der mehrere Turnhallen und ein Schwimmbad zählen, und machen Teamsport. Obwohl zunächst drei Sportarten festgelegt sind, ist es hinterher doch ziemlich offen. Ein belgisches Mädchen fängt zum Beispiel an, anderen einen Tanz beizubringen und schon bald tanzen viele andere mit. Am Nachmittag fahren wir noch mal in die Stadt um Turins Wahrzeichen anzuschauen: Die Mole Antonelliana, die mit einer Höhe von 167,5 Metern 8 Meter höher als der Kölner Dom ist und einst das höchste Backsteingebäude der Welt war. Zunächst wurde das Gebäude im 19. Jahrhundert als Synagoge gebaut. Der Architekt Alessandro Antonelli wollte seine eigenen Pläne immer mehr übertreffen und ließ die Kuppel deshalb immer weiter in die Höhe bauen. Schon bald konnte die Jüdische Gemeinde das Projekt nicht mehr finanzieren und verkaufte das Gebäude noch vor der Fertigstellung an die Stadt. Heute befindet sich darin das nationale Kinomuseum, durch das wir eine Führung bekommen. Zum Abschluss fahren wir alle noch mit einem in der Mitte der Kuppel frei hängendem Aufzug auf die Kuppel hinauf. Von dort hat man einen fantastischen Ausblick über die ganze Stadt bis hin zu den Bergen.
Mit den Menschen in Kontakt kommen
Am Donnerstag finden nochmal Workshops statt, diesmal aber etwas weiter entfernt von dem Roman. Meiner steht unter dem Motto „Menschen aus Turin“. Genau wie Oscar wollen wir die Geschichten der Menschen anhören. Dazu fahren wir in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum, interviewen Menschen und machen ein Foto von ihnen. Die Informationen aus dem Interview schreiben wir zu einer Geschichte aus der Perspektive der Person um und tragen diese Anschließend vor. Dabei merken wir, wie viel Mut es kostet, mit wildfremden Leuten über persönliche Angelegenheiten zu reden, doch ein großer Teil öffnet sich uns und berichtet von sich.
Der Freitag ist schon unser letzter Tag in Turin. Zum Abschluss schauen wir noch die Verfilmung von „Extrem laut und unglaublich nah“ an, die zwar nicht schlecht ist, die Handlung des Buches aber sehr vereinfacht. Nach einem letzten gemeinsamen Mittagessen in der Schulmensa steht uns der restliche Nachmittag zur freien Verfügung. Die meisten nutzen diesen, um noch einmal die Stadt zu genießen. Am Abend treffen wir uns mit allen Schülern, die in das Projekt involviert waren, und deren Gastfamilien in der Schule wieder, um eine abschließende Farewell Party zu feiern. Als wir am nächsten Morgen um 4.30 Uhr am Busbahnhof stehen, ist die schöne und aufregende Woche in Turin wirklich zu Ende. Doch mit im Gepäck haben wir – genau wie Oscar am Ende seiner Reise – die vielen Momente und Erinnerungen, die schönen sowie die schlechten. Und ich glaube, keiner von uns wird diese so schnell vergessen.
Autorin: Juliette Lentze
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