Ein zentrales Thema im Bereich der Sozialpolitik ist der Umgang mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nicht arbeiten. Seit der Einführung des Hartz-IV-Systems im Jahr 2005 unter einer rot-grünen Regierung können arbeitslose Menschen Arbeitslosengeld I (ALG I) und Arbeitslosengeld II (ALG II) empfangen, die ihnen die Sicherung des Lebensunterhalts und somit ein würdevolles Leben garantieren und den Sozialstaat stärken sollen. In diesem Artikel soll es vornehmlich um das Arbeitslosengeld II, auch Hartz-IV genannt, gehen.
Gerhard Schröder (SPD) gilt als Initiator der Einführung von Hartz-IV, das seinen Namen dem damaligen Vorstandsmitglied der Volkswagen AG Peter Hartz und der Tatsache, dass es das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt darstellte, verdankt. Die Reform des Systems sollte die damals bestehende Arbeits- und Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfsbedürftige auf dem Leistungsniveau des soziokulturellen Existenzminimums zusammenführen und viele Komplikationen und undurchsichtige Maßnahmen beseitigen. Hartz-IV wird aus Steuermitteln finanziert, somit wird von ALG-II-Empfangenden erwartet, dass sie als Gegenleistung alles dafür tun, ihre Hilfsbedürftigkeit abzubauen. Dazu muss gesagt werden, dass der Begriff „Hilfsbedürftigkeit“ wegen der damit verbundenen Stigmatisierung aufgegeben wurde.
Um Hartz-IV aber zu empfangen, gibt es einige Kriterien. Zunächst muss man in der Lage sein, mindestens drei Stunden täglich arbeiten gehen zu können, man sollte mindestens 15 Jahre alt sein und das Renteneintrittsalter noch nicht überschritten haben. Zudem sollte der Aufenthaltsort in Deutschland liegen und es ist nötig, Nachweise über Vermögen und Einkommen, aber auch über die Wohn- und Heizkosten vorzulegen, wodurch die Prüfung der Bedürftigkeit eingeleitet wird. Kann ein Mensch seinen Lebensunterhalt und den der Familie nicht (ausreichend) sichern, wird die Bedürftigkeit festgestellt. Nicht alle ALG-II-Empfangenden sind dabei ohne Arbeit. So geht jede*r fünfte Empfänger*in einer Erwerbstätigkeit nach. Minijobs im Niedriglohn-Sektor sind dabei häufig die einzige Perspektive.
Im Jahr 2021 bezogen Statistiken des Onlineportals für Statistiken Statista zufolge 3.813.992 Menschen Hartz-IV, im Vergleich dazu lag der Wert 2017 noch bei 4.362.752 Empfangenden. Die Höhe des sogenannten Regelsatzes, also des monatlichen Geldbetrags, der Empfangenden zusteht, stieg von 2005 mit 345 Euro auf 446 Euro im Jahr 2021. Dabei muss differenziert werden zwischen Alleinstehenden und Menschen, die in einer Bedarfsgemeinschaft oder im Haushalt der Eltern leben. Auch das Alter von Kindern bestimmt, wie viel Geld den Familien laut dem Gesetz zur Ermittlung des Regelbedarfs zusteht. Eine Erhöhung des Regelsatzes entsteht dadurch, dass dieser alle fünf Jahre neu ermittelt wird, da das Geld, einfach gesagt, zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich viel wert ist. Somit muss eine Anpassung an die Inflationsrate sowie an aktuelle Ereignisse in der Gesellschaft und die vorherrschenden durchschnittlichen Lebenshaltungskosten erfolgen. Dennoch gibt es viele Stimmen, eine davon die des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die eine Erhöhung fordern. Jener hält eine Summe von 582 Euro für angemessener, um Menschen eine Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Dazu aber gleich mehr.
Der Regelsatz sieht offiziell vor, welche Geldsumme für welchen Lebensbereich angesetzt ist. So soll sichergestellt werden, dass jede Ausgabe der Harz-IV beziehenden Bürger wohl überlegt erfolgt und Geld gespart wird. Das Hartz-IV-System ist in den Augen von Kritiker*innen sowohl sachlich als auch emotional reformbedürftig. Ihnen erscheint die Einführung dieses Systems im Jahr 2005, als eine Rekordarbeitslosigkeit von 13% herrschte – im Vergleich dazu lag sie 2019 vor der Corona-Pandemie bei 5,5% – als kurzfristige Maßnahme. Strukturelle Probleme, wie chronische Unterbezahlung oder prekäre Arbeitsbedingungen seien zu wenig angegangen worden. Eine schnelle Lösung, die auch die alten Systeme erneuern sollte, lasse strukturelle Gründe außer Acht. Dennoch ist zu beachten, dass die Arbeitslosigkeit in den Folgejahren zurückging. Auf den ersten Blick scheint Hartz-IV also eine positive Wirkung gezeigt zu haben. Kritiker*innen aber möchten die Hintergründe, die Realität der ALG-II-Empfangenden beleuchten. Zum einen fehle an vielen Stellen das Geld, sich den minimalen Lebensstandard ermöglichen zu können. Genannt werden die 7,66 Euro im Monat für den Hygienebedarf von Babys und Kleinkindern oder 43 Euro monatlich für Freizeitaktivitäten. Zudem die etwa fünf Euro pro Tag für Lebensmittel, insgesamt 155 Euro monatlich bei einem Regelsatz von 446 Euro. Der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz stellte 2020 heraus, dass diese Grundsicherung, die Hartz-IV darstellen soll, nicht für eine gesunde Ernährung ausreicht. Der Titel eines Zeit-Artikels „Hartz-IV: Der Trick ist, nur einmal pro Tag zu essen“ (2018) mischt dieser Bewertung dabei einen grotesken Beigeschmack bei. Die Folge dieser Ernährungsweise sind häufige und auch schwere Erkrankungen, die weder im Sinne der ALG-II-Empfangenden noch der Krankenhäuser des Landes sind. Zum Vergleich: Die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben für Lebensmittel in Deutschland beliefen sich 2021 auf 387 Euro, für Freizeitaktivitäten liegt der Wert bei 239 Euro. In Anbetracht der steigenden Lebensmittelpreise finden viele Menschen hier allen Grund zur Kritik an der Höhe des Regelsatzes. Insgesamt sind die Intransparenz bei der Bestimmung dieser Werte und das von Kritiker*innen vorgeworfene „unverschämte Kleinrechnen“ Gründe für ALG-II-Empfangende, sich ausgeschlossen zu fühlen. Sie fühlen sich zudem häufiger als andere Bürger*innen von der Politik im Stich gelassen, was auch an den von der Politik geschürten Vorurteilen liegen könnte. So brachte beispielsweise der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber 2017 auf Twitter den Kommentar: „Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs.“ Er spielt darauf an, dass Menschen, die Hartz-IV empfangen, häufig zusätzlich in Minijobs arbeiten müssen, um sich einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen. Dabei sind sie auch sehr anfällig für Schwarzarbeit, da sie ab dem Freibetrag, von 100 Euro Abzüge von ihrem Regelsatz zu erwarten haben. Es wird kritisiert, dass die Freibeträge insgesamt viel zu niedrig seien und ALG-II-Empfangende dadurch noch mehr von der Gesellschaft ausgeschlossen würden, da eine Teilhabe am öffentlichen Leben mit 43 Euro monatlich nicht möglich sei, zumal durchschnittliche Bürger*innen mehr als sechs Mal so viel für ihre Freizeit ausgeben würden. Die Vorurteile, die auch von den Medien mit Sendungen wie „Hilf mir! Jung, pleite, verzweifelt“ oder anderen Sendungen, verstärkt werden, erschweren es für ALG-II-Empfangende ebenfalls, eine Arbeit zu finden. Insgesamt wird die Arbeit vieler Jobcenter als nicht menschenwürdig bezeichnet, da ihr Fokus auf einer schnellen Vermittlung von Arbeit und weniger auf den einzelnen Menschen und ihren Bedürfnissen liege, sondern allein auf der Senkung der Arbeitslosenquote. So berichtet es die Hartz-IV-Gegnerin und von der Bundesagentur für Arbeit entlassene Inge Hannemann. Auf Arbeitssuchende werde ein hoher Druck aufgebaut, jeden möglichen Job anzunehmen. Besonders hart seien die zu erwarteten Sanktionen. ALG-II-Empfangenden drohen Sanktionen, wenn sie beispielsweise nicht zu Terminen erscheinen oder sich nicht aktiv an sämtlichen Maßnahmen zur Wiedereingliederung beteiligen. Letzteres kann eine Kürzung der empfangenen Leistungen um 30% zur Folge haben. Das kann laut ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) dazu führen, dass das Existenzminimum unterschritten wird und die Menschen in prekäre und niedrig entlohnte Arbeit gezwungen werden. Ver.di fordert aus diesem Grund eine Abschaffung der Sanktionen, da die Menschenwürde gesichert werden müsse.
Über sechzehn Jahre hinweg leben Menschen nun schon vom Arbeitslosengeld II und die Stimmen von Gegner*innen wurden und werden immer lauter, sodass auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP eine Art Reform des Systems gefordert wird. Gemeint ist das sogenannte Bürgergeld, welches dem Hartz-IV-System nicht nur einen neuen Namen geben soll, sondern vor allem die Menschlichkeit und „die eigenständige Förderung von Grundkompetenzen“ hervorheben soll. Die Grünen und die SPD, die das vorherrschende System selbst eingeführt hatten, wollen „weniger Pflichten und mehr Rechte für Empfangende von Sozialleistungen“. Scholz möchte auch einen alten Fehler wieder gut machen, da er selbst 2005 daran beteiligt war, Hartz-IV zu etablieren. Wie genau dies erreicht werden soll und vor allem wann, lässt sich dem Koalitionsvertrag jedoch nicht entnehmen. Dennoch spricht die Regierung bei beruflicher Qualifizierung den ALG-Empfangenden eine zusätzliche Summe von 150 Euro zu, die zu Weiterbildungszwecken genutzt werden soll. Dies erfordert ebenfalls eine Reform der Weiterbildungsmaßnahmen, da diese vor allem für arbeitswillige Frauen momentan Enttäuschungen bergen. Auch „sehr harte“ Sanktionen gegen mitwirkungsunwillige Arbeitslose sollen wegfallen und die Prüfung von Vermögen gelockert werden. Ebenfalls soll der Regelsatz erhöht werden.
Ein einheitliches Bürgergeld könnte auch die Diskriminierung von speziell ALG-II- Empfangenden Menschen verhindern, die durch den Unterschied von ALG-I und ALG-II im hiesigen System oft diffamiert werden. ALG-I-Empfangende gelten nicht selten als „normale“ Arbeitslose, was sicherlich auch durch die Medien propagiert wird.
Zuletzt ist noch zu erwähnen, dass jede*r dritte Hartz-IV-Beziehende an einer psychischen Erkrankung leidet. Dies hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung herausgefunden und betont die nicht erfasste Dunkelziffer. Kritisiert wird, dass Jobcenter- Beschäftigte trotz der hohen Rate nicht für die Erkennung solcher Erkrankungen ausgebildet seien und die bloße Arbeitsvermittlung den Vorrang behalte. Die neue Regierung will auch dies ändern, was sie beispielsweise durch eine systematische Zusammenarbeit von Jobcentern mit Fachkliniken und einer Förderung der Ausweitung von Therapieplätzen erreichen könnte. Auch chronisch unterfinanzierte Schuldnerberatungen sollten aufgestockt werden, denn etwa sieben Millionen Bürger*innen leiden unter dem Druck ihrer Schulden und werden nicht selten in die Arbeitslosigkeit getrieben.
In der gesamten Debatte über eine Reform des Hartz-IV-Systems müssen also neben der akuten Hilfe durch finanzielle Unterstützung arbeitsloser Menschen strukturelle Hintergründe der Arbeitslosigkeit stärker in den Vordergrund gerückt, geprüft und verbessert werden. Dabei soll Menschen nicht durch Druck geschadet werden, sondern eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik betrieben werden, die menschennah ist. Ob und inwieweit die neue Regierung dazu beitragen wird, wird sich in der nächsten Zeit zeigen, dafür müssen die Stimmen aber laut und der Wille, für Veränderung zu sorgen, groß sein. Auch ist zu erwarten, dass die Diskussion um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, dass ebenfalls einen Lösungsansatz darstellen kann, in der nächsten Zeit noch intensiver geführt wird.
Verfasst von Paulina Stuckenschneider
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