„Don‘t you address me unless it’s with four letters“, proklamiert Kendrick Lamar auf dem Song „Family Ties”. Jeder weiß, dass mit den vier Buchstaben die Bezeichnung G.O.A.T. (greatest of all time) gemeint ist. Kendrick Lamar ist der wahrscheinlich größte und einflussreichste Rapper zur Zeit und einer der anerkanntesten im Game. Dessen ist er sich auch bewusst. Er geht sogar noch weiter als die meisten Rapper und sieht in seiner Musik Gott, der durch ihn hindurch spricht. Spätestens seitdem das Leben seines Vaters bei einem Überfall verschont wurde und derjenige, der den Überfall durchgeführt hat, sich viele Jahre danach als Kendrick Lamars späterer Chef Top Dawg herausstellte, glaubt er nicht mehr an Zufälle. Für sein letztes Album „DAMN.“ hat er den Pulitzer-Preis gewonnen, für seine Musik insgesamt 14 Grammys, einen Golden Globe und einen Oscar.
„Where I been? Protecting my soul in the valley of silence“, heißt es in dem Song „Savior”. Und umso lauter ist der Widerhall: Kendrick Lamar kehrte am 13. Mai 2022 nach fünf Jahren Stille mit seinem neuesten Album zurück. „Mr. Morale & The Big Steppers“ ist der Titel und aufgrund der überwältigenden Anzahl an Streams stürzten sogar Spotify und Apple Music für eine Weile ab und waren nicht abrufbar [1]. Sämtliche Ankündigungen sorgten dafür, dass gelegentlich nur noch von ihm zu lesen war.
In seiner Musik verarbeitet er seine Erfahrungen aus der „Hood“, denn Kendrick wuchs in Compton, Kalifornien auf, einem Ort mit viel Kriminalität und wenig Perspektive.
Für ihn war Rap ein Weg aus der Hood, aber wie Snoop Dogg auf Kendricks Song ,,Institutionalized“ rappt: „You can take your boy out the hood, but you can’t take the hood out the homie“. Auf seinen Alben „Section.80”, „good kid, m.A.A.d city” und „To Pimp A Butter- fly” erzählt er seine Geschichte. Auch wenn er gut in der Schule war (nach eigenen Aussagen „straight A‘s“[1]) und nie in einer Gang, beeinflusste ihn zwangsläufig seine Umgebung. Als Kind erlebte er den (ihn prägenden) Dreh zum Musikvideo von 2Pac‘s und Dr. Dre’s „California Love“ mit, einem der erfolgreichsten Westcoast-Hits überhaupt. So nahm er Drogen, wurde in Kriminalität verwickelt und bekam die Gewalt der Bloods und Cribs um sich herum mit. „Usually I’m drug-free, but, shit, I’m with the homies“. Nachdem einer seiner Freunde bei einer Schießerei starb, nahm er einen gewissen Lebenswandel vor: Er fokussierte sich auf seine Rapkarriere und statt in den Thug Heaven mit 2Pac zu wandern, wählte er das Musikstudio mit Dr. Dre.
Er berichtet über das Schicksal vieler, jedoch ohne die Hood zu glorifizieren. Vielmehr wächst Kendrick Lamar zu einer Art Hoffnungsträger und Vorbild für diejenigen heran, die noch ,,feststecken“.
Bei seinem neuen Album „Mr. Morale & The Big Steppers“ macht Kendrick im Gegensatz zu seinen vorherigen Alben etwas grundsätzlich anderes. Anders als bei diesen packt Kendrick kein größeres Narrativ über mehrere semifiktionale Charaktere aus, das sich über die gesamte Tracklist ausbreitet und in seinem Konzept sehr abstrakt sein kann. Seine Geschichte hat er bereits erzählt. Vielmehr nimmt er die Zuhörer*innen auf den 18 Songs des neuen Albums durch sein Innenleben mit. Und „Innenleben“ ist hier wirklich bezeichnend, denn es ist das, was die Öffentlichkeit die letzten fünf Jahre nicht mitbekommen hat: Seine Ängste, Depressionen, Konflikte, seine traumatisierenden Kindheitserfahrungen und seine Therapiestunden, wobei sich das Album fast selbst wie eine Therapiestunde anfühlt. „I’ve been going through something“, stimmt er im Intro an.
Es gibt wohl keinen so bekannten Musiker, mit so wenig Social Media Präsenz.
Nach eigenen Aussagen kommt er monatelang ohne Handy aus [3] und wenn er sich doch auf Social Media zurückmeldet, dann ist es bloß der Link zu einem neuen Song von ihm. Mit dem neuen Album wissen wir endlich, warum er sich von der Außenwelt abschottet. „I grieve different”.
Das Albumcover zeigt Kendrick mit seiner Verlobten und seiner Tochter, er trägt einen Dornenkranz, wie es Jesus tat und trägt eine Pistole in seiner Hose.
Er ist sich seiner Verantwortung bewusst, er ist „Mr. Morale“, er klärt auf, vermittelt Werte und wird – ob er es will oder nicht – zum Ideal. Er ist aber nicht der Retter, für den man ihn hält, denn es geht noch weiter: Seine Musik wird instrumentalisiert.
Während zahlreicher Aufstände gegen Polizeigewalt in Amerika werden seine Strophen gesungen[3]. Dadurch ist er aber auch ein „Big Stepper“, jemand der auf den Straßen Macht hat und mit einer Pistole herumläuft. Obgleich seine Pistole nicht von ihm getragen wird, sondern von den Leuten, die sich seine Kunst zum Anlass für Gewalt nehmen, trägt er durch seinen Einfluss und seine Verantwortung indirekt doch auch selbst eine Waffe.
Kendrick ist aufgrund dessen nicht frei von Kritik. Ein Fox News Beitrag impliziert sogar, dass Hip-Hop und unter anderem Kendricks Musik mehr Schaden anrichten würden als Rassismus. Die Moderatorin Kimberly Guilfoyle: „Oh please, ugh, I don’t like it“ und ihr Kollege Geraldo Rivera: “This is why I say that hip-hop has done more damage to young African Americans than racism in recent years.”, äußerten sich auf genannte Weise zu der Musik Kendricks.[4]
Dies sind seine zwei, sich widersprechenden oder – wenn man so will – sich ergänzenden Rollen, die ihm zu schaffen machen. Auf dem Album distanziert sich Kendrick bewusst von allen Rollen, die ihm zugewiesen werden, unter anderem von der eines Retters. Er offenbart auch, dass die Rollen ihm zu schaffen machen („Writer’s block for two years, nothin’ moved me”). Der Song „N95” bedient sich der Metapher der Maske, sei es eine N95-Corona Maske oder die des Erfolgs, denn auch er trägt eine. Die Bezeichnung „ugly as fuck” für das, was sich unter der Maske verbirgt, beschreibt, wie auch Reichtum keine Selbstzweifel beseitigen kann. Weiterhin beschäftigt er sich kritisch mit denen, die mit dem Finger auf ihn zeigen, etwa die besagten Fox News Reporter. Sie seien als Teil eines Meinungsfreiheits begrenzenden und kapitalistischen Systems ebenso schuldig: „The noble person that goes to work and pray like they posed to? Slaughter people too, your murder’s just a bit slower“.
Was bei dem Projekt auffällt, ist, dass deutlich weniger Moshpit-Material, Ohrwürmer und eingängige Radiomelodien zu hören sind, als auf vorherigen Alben. Man kann nur raten, weshalb es zu diesen Veränderungen kommt, aber eine Möglichkeit wäre, um einen neuen Sound zu kreieren oder um den Inhalt in den Vordergrund zu rücken.
Ein Beispiel für einen Song, der teilweise seine Wirkung verfehlt und dessen Rezeption das ,,Mr. Morale – Big Stepper Problem“ beschreibt, ist „Swimming Pools” aus dem Album „Good Kid, m.A.A.d. City”. Im Kontext des Albums beschreibt der Song kritisch, wie gewisse Leute versuchen, ihre Probleme im Alkoholmissbrauch zu ertränken. Und was passiert mit dem Song? Er kommt so gut an, dass er auf unzähligen Partys läuft und mitgesungen wird, während genau dieser Alkoholmissbrauch in Unmengen stattfindet.
Als musikalischer Gegensatz auf dem neuen Album kann „Crown“ gesehen werden. Mit lediglich einer minimalistischen Klaviermelodie und einem leisen, zerbrechlichen Kendrick bei über vier Minuten Laufzeit besitzt der Song so gut wie keine Radiotauglichkeit. Er gibt sowohl musikalisch, als auch inhaltlich eine Antwort auf das besagte Problem des Rollenkonflikts: „I can’t please everybody“. Weitere tiefe Einblicke in seine Person und Familiengeschichte erhält man durch die Songs „Father Time“, „Auntie Diaries“ und „Mother I Sober“.
An diesen Stationen des Albums kann man sein Trauma, das von Vaterkomplexen und Missbrauch, bis hin zu Armut und Existenzängsten reicht, hautnah miterleben. Vielmehr kann man verstehen, warum Kendrick so ist, wie er ist.
In dem Outro kommt er jedoch zu einer neuen Erkenntnis: Statt weiter in dem Kreislauf von Kompensation festzustecken, versucht er die Wurzel seiner Probleme ausfindig zu machen und mit Vergebung und Akzeptanz an sich selbst zu arbeiten und somit den Fluch der Generationen zu brechen. Seine Karriere wird noch weiter in den Hintergrund rücken, denn er kann nicht die Welt retten, während er in seiner eigenen kämpfen muss. Seine Frau und seine Tochter haben Vorrang, die Fans müssen warten: „I choose me, I’m sorry“.
Ob Kendrick Lamar nun wirklich mit den vier Buchstaben angesprochen werden sollte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Was man aber sagen kann, ist, dass Kendrick mit seinem bisher persönlichsten Album diesem Titel näher gekommen ist. Auf ergreifende Art und Weise erklärt er sich, seine Person, und betreibt trotz seiner neuen Herangehensweise,, Fanservice“, indem er seine Fans an seinem Leben teilhaben lässt. Er hat es nicht nötig, auf einen eingängigen Mainstream-Sound zu setzen, denn seine reflektierte Person und sein Einfluss ist Mainstream genug. Obgleich Musikalität weniger im Vordergrund steht, kommt sie dennoch nicht zu kurz. Auch wenn es auf dem Album kein zweites „Swimming Pools“ gibt, reiht sich „Mr. Morale & The Big Steppers“ perfekt in eine der beeindruckendsten Diskografien im Hip-Hop ein. Obwohl er mit Baby Keem und Tanna Leone, die er auf seinem neuen Label „pgLang“ unter seine Fittiche nimmt, Nachwuchs bietet, wird er definitiv eine Lücke hinterlassen.
Wer sich davon überzeugen will, sollte sich das Album anhören.
Verfasst von Anon Chopra
Lorenz
•2 Jahren ago
Dieses Werk ist ein wahres literarisches Meisterwerk.
Weiter so
Florian
•2 Jahren ago
Einfach nur großartig so viel Qualität und Arbeit, nicht mal Artikel von großen Zeitungen könnten da mithalten.
Kann man nicht anders sagen echt super und legendär und eine Freude zu lesen.